anders ort

die zehn Gebote der Dramaturgie von Kirche und Gemeinde

 


Es gibt keinen Ort,
der Gott halten könnte,
und gerade dort
finden wir ihn.

 

 

1. „ICH BIN dein Gott.“ – Kirche ist Anders-Raum

Wie andere Kultorte auch ist die Kirche immer schon ein Tor zu einer anderen Welt. Wird sie geschlossen, spüren wir – auch wenn wir sonst gar nicht hingehen wollen – dass uns damit die Möglichkeit, durch diese Tür zu gehen, genommen wird. Diese Fremdheit und Andersartigkeit spiegelt unsere christliche Identität. Jesus ist in der Welt (Yeshua, Gott hilft), doch sein Reich ist nicht von dieser Welt. Als Christen sind wir auf seinen Tod und seine Auferstehung getauft und tragen seinen Namen: „Christ“.
Wir sind ein Anders-Raum. Es gibt Kabel und Lautsprecher und tragende Balken und das alles. In der Welt. Doch unsere Bestimmung und Botschaft gehen über diese Welt und über den Tod hinaus. Die Elemente und die Töne bleiben die gleichen. Doch die Melodie auf der Harfe hat sich verändert. (Weis 19,18)
Wir müssen die Türen offen halten. „Ich bin die Tür …“ (Joh 10,9)

 

2. „Missbrauche nicht SEINEN Namen.“ – Kirche ist Frei-Raum

Die Welt versucht uns zu knechten und zu diktieren. Technik, Ökonomie, Sachzwänge. Das ist unsere Angst und Enge.
Doch Gott befreit uns. Und die gebührende, koshere Art der Begegnung mit Gott ist darum die Offenheit.
Keuschheit ist die Freiheit für Gott. Offen stehen wir vor ihm. Auch räumlich. Die Altargesetze (gleich nach den zehn Geboten) sind hier sehr klar: Kein Silber und Gold, keine Stufen und Hierachien, keine Ideologien.
„An jedem Ort, an dem ICH meinem Namen ein Gedächtnis stifte, will ich zu dir kommen und dich segnen.“ (Ex 20,24)
Hüten wir uns also vor weltlicher Engstirnigkeit und Rechthaberei!
Bleiben wir offen für Gott.
„Selig, die arm sind vor Gott; denn ihnen gehört das Himmelreich.“ (Mt 5,3)

 

3. „Der siebte Tag ist IHM geweiht.“ – Kirche ist Leer-Raum

Mit offenen, leeren Händen treten wir vor Gott, wenn wir beten. Kirchen sind oft nach Osten ausgerichtet, auf den Sonnenaufgang, die kommende Welt, die Auferstehung und das Leben. Das ist Christus. Das ist unsere Richtung. Das ist der neue Weg.
Wie bei Abraham liegt das Gelobte Land noch vor uns. Auch als Christen leben wir im Provisorium (pro-video = voraus-schauen), bleiben Nomaden und Fremdlinge. Die Apsis – dem Göttlichen frei- und vorgehalten – ist ursprünlich: l e e r !  Und die Gemeinde versammelte sich und betete und feierte gemeinsam nach Osten. Erst mit Konstantin und Theodosius wurden Absperrungen und Verzweckungen eingeführt. Der Altar wanderte nach „vorne“ und die Priesterkaste entstand. Der Raum möbelte sich mit der Zeit immer voller, die Kirche wurde immobil und nahm sich selbst gefangen.
Räumen wir die Bänke raus! Und plötzlich wird der Blick auf Christus wieder frei.

 

4. „Ehre Vater und Mutter.“ – Kirche ist Raum der Erinnerung

Um nach außen zu schauen, gehen wir nach innen.
Ich steige in die Höhle und Krypta hinab und erfahre Gott.
Sinnesorgane gehen nach innen.
Aller Bilderstürmerei zum Trotz sind Kirchen Räume einer kollektiven Tradition.
Ehren wir die Alten, die die Lebensflamme vor uns getragen haben.
Ob Kreis oder offene Syrinx, ob „U“ oder imperialer Staatskult (frontal, in den klassischen Omnibusreihen oder in der hippen One-Man-Show), ob Vereinzelung oder Prozession oder Wandlung … , das alles macht Sinn, wenn wir im Zentrum auf Gott, den Erneuerer und Befreier, stoßen. Das alles aber ist leeres Getöse und sinnloser Dienst, wenn es sich immer nur selbst wiederkäut.

 

5. „Töte nicht.“ – Kirche ist Raum des Lebens

Das Ritual, dem der Raum dient, ist die Verwandlung des Lebendigen.
„Lasst uns Menschen machen nach unserem Bild.“ (Gen 1,26)
Ganz konkret. Pessach. Leben und Tod. Stoffwechsel in Gott.
„Denn mein Fleisch ist wirklich eine Speise und mein Blut ist wirklich ein Trank.“ (Joh 6,55) Nahrungsaufnahme und das Annehmen des Wortes. Jetzt. Gemeinsam. In der Kraft des Heiligen. Also Kreis und Bewegung. Herein- und Heraustreten, Gegenübertreten, Revolution, Verwandlung, Umkehr, Zeugung, Geburt … Durchgang … Abschied und Ankunft.
Nicht alles auf einmal. Aber doch wieder-holend.
Eucharistie ist Sterbe- und Auferstehungs-Sakrament.
Aber haben wir nicht schon längst den Atem unserer Gottesdienste kastriert? Was würde denn passieren, wenn wir unsere starren und unbeweglichen Bänke aus unseren Kirchen wieder entfernen?
Würden wir nicht aufs Neue unsere Räume wieder geistreich zum Leuchten bringen: variabel, phantasievoll und abwechslungsreich?
Und sind wir denn nicht selbst genau so von Gott ins Leben gerufen:
mündig, geschwisterlich, fromm?
(Und „fromm“ heißt: zu aller erst, trefflich, bravourös, vorneweg!)

 

6. „Brich nicht die Ehe.“ – Kirche ist Raum des Schutzes

Der Kosmos wird durch Gesetze gehalten, schützend und geschützt, und das Paradies ist ein Garten (gard = Schutz).
Der Tempel meint die Welt und ist doch auch von ihr abgesondert (temno = schneiden), und ebenso ist es mit der heiligen Zeit (tempus). Raum und Zeit. Auch die Dramaturgie eines Gottesdienstes läuft nach diesem uralten Gesetz. Urbild und Abbild. Hören, Hinhalten, Sich-Verwandeln-Lassen. Die Gemeinde wendet sich an Gott. Gott wendet sich an die Gemeinde. Heiliger Geist. „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen.“ (Mat 18,20) Das ist ein Sakrament: Wenn Menschen in Gott zusammen kommen.

 

7. „Stehle nicht.“ – Kirche ist dynamischer Raum

Die Kraft Gottes bewirkt, dass Einzelne aus der Gemeinde heraustreten und ihr im Heiligen Geist als Handelnde und Verkündende gegenüber stehen, gleichzeitig aber beten wir in Gemeinschaft auf Gott hin. Veränderung, Wandlung entsteht. Von Gott aus. Fragend. Rufend. Antwortend.
Diese Wandlung in Auseinandersetzung, im Gegenüber, im Dialog des Heiligen Geistes ist Ausdruck göttlicher Gegenwart.
Wie gesagt: Es ist eine Bewegung.
Kein starres Positionieren und Sitzen-Bleiben.

 

8. „Lüge nicht.“ – Kirche ist Raum der Schlichtheit

Die Gesetze der Schönheit sind für uns Menschen nicht immer leicht zu erfassen. Oder sollten wir sagen Ehrlichkeit? Perfekt ist jedenfalls tot. Und Prunk ist das Gegenteil von Schönheit. Und lärmendes Plappern auch. Objektivieren wir unseren Gott also nicht. Gott ist immer Subjekt, sprechend und angesprochen im liebenden „Du“.
Vielleicht ist Stille die richtige Art im Umgang mit Gott. Edle Einfalt, stille Größe. Weniger ist Mehr, das Zurückhalten, das Leer-Räumen, die raffinierte Askese des Nicht-Alles-Sagens, das Offene und Fragmentarische, selbst beim „Flirten“ das Sich-Rar-Machen im Vertrauen auf Gott. Wir „feiern“ Gottesdienst. Wir „feiern“ sogar Beerdigung. Das ist eine andere Realität, die in unsere Realität hereinscheint.
„Mein Gott, wie schön du bist!“

 

9. „Begehre nicht das Leben anderer.“ – Kirche ist Raum der Freude

Balance zu halten ist eine hohe Kunst. Fanum und Profanum, Ernsthaftigkeit und Jubel. Doch ich kann auch etwas so heilig machen, dass es impotent wird.
Die Kunst des Christentums ist die Befruchtung und damit die Verwandlung der Welt. Diese Liebesgeschichte zur Welt ist die Liebesgeschichte Gottes. „Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen einzigen Sohn dahingab …“ (Joh 3,16) „Ich lebe, und ihr sollt auch leben.“ (Joh 14,19) Wenn diese Liebe aufscheint, erhebt sich schon hier der Jubel des Magnificat. (Lk 1,46-55)

 

10. „Begehre nicht den Besitz anderer.“ – Kirche ist hingehaltener Raum

Die Kirche ist ein Gebäude, eine Gemeinschaft und eine Institution, alles zugleich. VersammlungsOrt und FluchtRaum der Seele.
Sie ist zweckfrei, abgesondert und über dem Alltag. Sie ist Lagerhalle, Kontor, Maschinenraum und Café.
Ich zünde eine Kerze an und ich erlebe Gemeinschaft.
Das alles. Und mehr.
Revolution. Verwandlung.
Gegensatz. Vereinigung.
Aufbruch. Neuanfang.
Vergebung.
Kommunion. Kommunikation.

Denn Dein ist das Reich
und die Kraft
und die Herrlichkeit
in Ewigkeit.
 

Gott ist über all.

„Mir gehört der ganze Erdkreis.
Ihr aber sollt ein Volk von Priestern sein.”

(Exodus 19,5f.)